…Doch, doch, ich habe richtig geschrieben…
Ich meine jetzt nicht den berühmten Bruder Felix, sondern seine weniger berühmte Schwester Fanny.
Obwohl sie doch auch, wie ihr Bruder, über immense musikalische Fähigkeiten verfügte. Das jedenfalls belegen die vielfältigen Zeugnisse ihrer Zeitgenossen.
Nur, leider, war sie weiblich.
Das bedeutete in der traditionell denkenden jüdischen Bankiersfamilie: keine Öffentlichkeit, weder als Pianistin in Konzerten noch als Komponistin, die nicht publizieren durfte. Ihre Rolle war es, eine gute Ehefrau und Mutter zu werden, und sie fügte sich auch weitgehend, wenn auch nicht ohne innere Widerstände.
Immerhin initiierte Vater Abraham Mendelssohn die sogenannten „Sonntagsmusiken“ in den großzügigen Privaträumen, zu denen nach und nach sich immer mehr nicht nur die musikalische Elite traf wie etwa Paganini oder Liszt, sondern auch aus der Wissenschaft, wie Alexander v. Humboldt oder Dichter wie Brentano. Hier konnten sich beide Kinder mit ihrem Können produzieren. Was aber doch vor allem für Felix galt.
Und Fanny?
Die überraschte zum Beispiel Papa Abraham zu seinem Geburtstag mit dem Vortrag von Bachs ‚Wohltemperiertem Klavier‘, was bedeutete: zweimal 24 Präludien und Fugen- auswendig! Das muss man erst einmal nachmachen! Fanny war damals gerade dreizehn Jahre alt und versetzte alle damit in Erstaunen. Was ihr aber bezüglich ihrer Frauenrolle auch nicht weiterhalf…
Und sie komponierte. Trotzdem.
Vor allem kleine Charakterstücke für Klavier, viele Lieder für Gesangsstimme und Klavier, eine Handvoll Kammermusikstücke, großangelegte geistliche Kantaten mit Chor und Orchester…
Da geht mein Stöbern los.
Und ich staune…
Ihre Lieder… Wie tiefempfunden die Worte in Musik gesetzt sind- und doch so natürlich…
Ein Blick in die Partitur zeigt, wie angstfrei sie von Tonart zu Tonart moduliert; streckenweise weiß man gar nicht, wo man sich gerade befindet…Ein bisschen zu viel, kritisiert Bruder Felix im Hinblick auf ihr Streichquartett Es-Dur, das auch noch ständig zwischen Dur und Moll schwankt…
Apropos Partitur…
Auf der Online-Plattform, wo man sich „gemeinfreie“ Partituren herunterladen kann, herrscht bei Fanny gähnende Leere. Eigentlich findet man nur die Werke, die sie schließlich doch selbst publizieren durfte (dafür erteilte Felix ihr den „Handwerkssegen“), einige allerdings versteckt in dessen Oeuvre, die er unter seinem Namen herausgegeben hatte- damit sie überhaupt an die Öffentlichkeit gelangten.Und von den drei größeren Kammermusikwerken, dem o.g. Streichquartett, dem späten Klaviertrio und einem frühen Klavierquartett wurde nur das Trio kurz nach ihrem Tod publiziert. Von den „Gartenliedern“ für gemischten Chor abgesehen findet man auch keines ihrer großen Vokalwerke, den „Lobgesang“ nicht, auch nicht die „Hiobskantate“ und auch nicht das Oratorium nach „Bildern der Bibel“. Für Letzteres muss sie zumindest gehofft haben, es in der Berliner Singakademie aufführen zu lassen unter Carl Friedrich Zelter, dessen Schülerin sie war. Umsonst.
Fanny durfte also nur begrenzten Zuspruch für ihre Werke erwarten, und so komponierte sie hauptsächlich für sich und ihre Familie.
Weil es sie drängte, zu komponieren, besonders wenn große Ereignisse ihr Leben streiften.
So entstand der „Lobgesang“ aus ihrer Freude über die Geburt ihres einzigen Sohnes Sebastian heraus, und zum Geburtstag ihres verständnisvollen Mannes, dem Kunstmaler Wilhelm Hensel, seltsamerweise die ‚Hiobskantate‘ – Unbeschwertheit war nicht angesagt, da gerade die Cholera in Berlin wütete. Aus Trauer über die vielen Toten, auch aus ihrem persönlichen Umwelt, schrieb sie das „Oratorium nach Bildern der Bibel“. Hört man diese Werke, fragt man sich erstaunt, warum man sie nicht viel früher schon einmal gehört hat, so schön sind sie, so beziehungsreich zu dem Text ist die Musik geschrieben… Streckenweise glaubt man, die Musik von Bruder Felix zu hören, so ähnlich klingen die Art der Instrumentation, einige Phrasen und Wendungen… Nicht, dass sie bei ihm abgeguckt hätte; dazu war sie souverän genug. Doch verband die beiden zeitlebens ein so tiefes seelisches Band, dass sie sich manchmal selbst über gewisse Ähnlichkeiten in ihren Werken wunderten…Und dann wieder klingt alles so neu, so- ja, so fannymäßig… Auffallend in diesen Werken ist auch, wie sehr sie sich an Bach orientiert, ja sogar zitiert bzw. eine ähnliche Musik schreibt- wie z.B. die Hirtenpastorale aus der zweiten Kantate seines Weihnachtsoratoriums in ihrem „Lobgesang“ Auch die polyphonen Abschnitte zeigen ihre Affinität zu ihm…
Übrigens kritisierte Felix das letzte der drei großen Chorwerke, die ‚Cholerakantate‘, heftig. Sie habe die Worte nicht sorgfältig genug ausgesucht, befand er; diese taugten überhaupt nicht in Musik gesetzt zu werden…
Überhaupt beurteilten sie sich ständig gegenseitig- ehrlich, sorgfältig und kompromisslos. Fanny erteilte ihm ebenso Ratschläge wie er ihr- mit einem großen Unterschied. Er dachte nämlich ebenso wie sein Vater, dass es sich nicht für Frauen schicke, zu komponieren. Und überhaupt- großangelegte Werke konnten sie ohnehin nicht schreiben, dazu fehle es ihnen an Erfindungsreichtum und Ausdauer. Und doch gab es kaum ein Werk, das er ihr nicht zur Ansicht vorlegte. Ihr Urteil war überhaupt das Wichtigste für ihn.
Zeitweise glaubte auch Fanny, dass ihr, als Frau, Einiges fehle, Großes schaffen zu können. Vielleicht sind auch deshalb ein Großteil ihrer Werke Miniaturen: Lieder mit Singstimme und Klavier sowie ihre selbst so genannten „Klavierlieder“.
Wer von Beiden erfand übrigens die „Gattung“ „Lieder ohne Worte“, für die Felix so berühmt wurde? Er oder sie?
Womöglich sogar sie, wie aus einem ihrer Briefe hervorgeht…
Hervorheben möchte ich an dieser Stelle aber auch den großartigen Klavierzyklus ‚Das Jahr‘, den sie nach ihrer einjährigen Italienreise mit Mann und Kind in Wehmut an diese für sie glückliche Zeit geschrieben hat. Er besteht aus zwölf Episoden, eben den Monaten des Jahres; eine äußerst komplexe und zum Teil hochvirtuose Musik, die zeigt, welch‘ eine excellente Pianistin Fanny gewesen sein muss… In Italien wurde sie nicht nur als Pianistinwahrgenommen , sondern auch als Komponistin. Gounod, der gerade in Italien als ‚Prix du Rome- Preisträger weilte, verehrte sie geradezu…
Noch existieren wenige Aufnahmen; am ehesten Klavierstücke, das d-Moll-Trio, Lieder… Und noch immer ist längst nicht alles publiziert; Etliches erst ab den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Noch immer finden ihre Werke auf den Konzertpodien dieser Welt wenig Beachtung…
Und noch immer sind es ‚Nischenkonzerte‘ von Frauen, die sich ihrer Werke annehmen, doch das Interesse an dieser hochbegabten Frau wächst…
In diesem Zusammenhang finde ich es toll, dass Peter Härtling ihr in seinem Biografieroman ‚Liebste Fenchel‘ ein Denkmal gesetzt hat…